Futterneid
Die letzte Woche war sehr hart für einen kleinen Trupp Sanderlinge, der sich entschlossen hatte dem Winter an der mecklenburgischen Ostseeküste zu trotzen. Die Temperaturen im zweistelligen Minusbereich hatten Ostsee und Strand erstarren lassen und machten die Nahrungssuche zu einer mühsamen Angelegenheit. Ihre Mägen knurrten und die Stimmung war auf dem Nullpunkt.
Endlich wurde die ungemütliche Ostwetterlage von westlichen, milden Strömungen verdrängt und auch die Sonne half Ostsee und Strand aufzutauen. Die kleinen Sanderlinge ließen sich nicht zweimal bitten und begannen sofort damit sich die Mägen vollzuschlagen. Endlich konnten ihre Schnäbel wieder den Sand nach Fressbarem durchwühlen! Sie steckten jeder für sich ein eigenes Nahrungsrevier ab und begannen die kulinarischen Schätze zu heben.
Kaum war der schlimmste Hunger gestillt, waren alle Qualen der vergangenen Tage vergessen und die üblichen Denkmuster gewannen langsam die Oberhand: „Die Würmer im Nachbarrevier sind bestimmt viel größer, fetter und schmackhafter… die muss ich unbedingt probieren!“ Und so dauerte es nicht lange, bis der erste von Ihnen gierig zu seinem Nachbarn hinüber äugte.
Dieser Blick blieb keineswegs unentdeckt und ließ bei seinem Gegenüber die Alarmglocken schrillen: „Na warte Freundchen, meine Würmer bekommst Du nicht!“ Und er nahm seine fieseste Drohhaltung ein.
Doch zu spät, der Angreifer hatte bereits zu einem mächtigen Kung-Fu-Sprung angesetzt, der Bruce Lee alle Ehre gemacht hätte, und sein Schnabel traf den überraschten Revierinhaber voll auf die zwölf. Völlig verdutzt ob dieser Dreistigkeit und aufgrund des hämmernden Schmerzes in seinem Kopf sank er wie gelähmt zu Boden. Ausgerechnet in diesem qualvollen Augenblick traf ihn zusätzlich eine Welle der eiskalten Ostsee.
Doch dieser Kälteschock gab ihm seine Energie zurück. Er nahm alle seine Kräfte zusammen und rammte dem Schurken, der innerlich schon seinen Triumph auskostete, mit voller Wucht seinen Kopf in die Weichteile. Dieser hatte nicht einmal mehr die Zeit sich zu wundern, sondern brach augenblicklich zusammen.
Der nun überlegene Sanderling dachte sich: „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste! Zur Sicherheit hämmere ich ihm besser nochmal den Schnabel gegen den Kopf, um ihm die Flausen endgültig auszutreiben.“ Gesagt, getan!
Das war dem Angreifer zu viel.. Er flüchtete Hals über Kopf in sein eigenes Revier zurück und konnte immer noch nicht fassen, dass ihm der sicher geglaubte Sieg noch entronnen war. Der Sieger hingegen, vollgepumpt mit Adrenalin und Glückshormonen, konnte sich eine deutliche Siegerpose in Richtung des Geschlagenen nicht verkneifen und so riss er feixend die Flügel in die Höhe.
Nach diesem kurzen, zwischenzeitlichen Gemetzel beruhigten sich die Gemüter schnell und man ging wieder der Nahrungssuche nach – jeder in seinem eigenen Revier! Nachdem sich die kleinen Sanderlinge mit Würmern und anderem Getier bis obenhin vollgestopft hatten, wurden sie träge und ein Gefühl von Zufriedenheit und Müdigkeit übermannte sie. In diesem Zustand gab es wahrlich keinen triftigen Grund für Zank und Streit und ein Bedürfnis nach Nähe überkam sie. So begruben sie das Kriegsbeil und suchten sich die schönste Buhne für ein gemeinsames Verdauungsschläfchen.